Mittwoch, 8. Oktober 2008

Ultimo-Artikel: Oktober 2008


Bestandsaufnahme: Ein Waschbecken, zwei Eimer und zwei Messbecher, drei Wasserhaehne an der Wand (einen fuer kaltes Wasser, einen fuer warmes und einen kaputten). Ein Bord, einen Handtuchhaken und eine Toilette. Das ist mein Badezimmer.
Drei Computer, Internet, W-lan fuers Apple-notebook des Chefs, Drucker, Scanner, vibrierende Handys mit Kamera und Bollywood-Klingeltoenen, (natuerlich in Mp3-Qualitaet); das ist das Buero.
Ja, die Technik hat Einzug gehalten in Indien; allerdings in erstaunlicher Selektion. Die Menschen besitzen Digitalkameras, aber keine Waschmaschinen. In der einen Hand halten sie ihr ultra-modernes Klapp-Handy, mit der anderen bereiten sie auf einem Gaskocher am Boden ihr Mittagessen. In den Grossstaedten spriessen die Elite-Universitaeten wie Pilze aus dem Boden, in den Doerfern erscheint selbst der Lehrer nicht zum Unterricht.
Ja, es heisst wirklich zu Recht, Indien sei ein Land der Gegensaetze.
Ich stelle mir oft vor, dass ich in Luebeck durch die Fussgaengerzone gehe. Die Sonnenbrille im Haar, den Mp3-Player um den Hals. In einem der vielen Cafés bestelle ich mir einen grossen Caramel Macchiato, natuerlich “to go”. Ich gehe weiter und kontrolliere zwischendurch mein Spiegelbild in einem der Schaufenster und stelle fest, dass mir die Inkarnation unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft entgegenblickt. Die neue Spielzeit am Stadttheater wird dieses Jahr ohne mich stattfinden und auch Kino-Abende mit anschliessendem Cocktailtrinken sind fuers Erste ausser Reichweite.
Aber auch hier in Semiliguda gibt es eine Einkaufsstrasse, so ist das nicht. Oder sagen wir, es gibt eine Strasse. Oder noch besser: Es gibt etwas, das erinnert entfernt an eine Strasse. Und die Gebaeude rechts und links kann man bei genauem Hinsehen auch tatsaechlich als Geschaefte identifizieren. Um jedoch herauszufinden, was in diesen Laeden eigentlich verkauft wird, muss man erst einmal unbeschadet ueber den mit wackeligen Holzbohlen abgedeckten Abwasserkanal gelangen, ueber ein bis zwei schlafende Hunde steigen und anschliessend noch die eine oder andere Kuh davon ueberzeugen, dass man wirklich genau dahin moechte, wo sie gerade steht. Ist man dann endlich an dem Geschaeft seiner Wahl angekommen, steht man vor dem groessten Durcheinander an kaufbaren Dingen, dass man sich nur vorstellen kann und der einzige, der hier noch den Durchblick hat, ist der Verkaeufer.
Ja, manchmal kann Einkaufen zum Abenteuer werden. Doch ich muss gestehen, dass mir das gar nicht so unwillkommen ist. Ein bisschen Abenteuer hat noch keinem geschadet. Da ich mich hier nun beim besten Willen nicht ueberarbeite, bin ich fuer jede Abwechslung dankbar. Leider war es damit aber seit einer Weile vorbei, denn am 23. 08. diesen Jahres wurden der Hinduistenfuehrer Swami, sowie vier weitere Pesonen ermordet. Da der Verdacht auf militante Christen fiel, kam es zu einem Konflikt zwischen den Religionen. Die Tat hatte nicht nur einen Aufschrei der Empoerung zur Folge, sondern auch den Ausbruch von Gewalttaten im gesamten Bundesstaat Orissa.
Zum Glueck ist unsere Organisation IRDWSI (Integrated Rural Development of the Weaker Sections in India) absolut laizistisch und wird von der Bevoelkerung auch als neutraler Helfer anerkannt. Dementsprechend bin ich hier relativ sicher, aber nur kanpp 100 Km weiter haben Autos gebrand, wurden Kirchen und Gebetshaeuser angezuendet und christliche Einrichtungen, wie z. B. Waisenheime und Kindergaerten wurden zerstoert. Verstaendlicherweise wurde uns deswege sehr deutlich davon abgeraten, in den Ort zu gehen, auch wennl in Semiliguda selber alles ruhig ist. Mittlerweile sind die Proteste abgeflaut und ich hoffe, dass ich bald wieder hinaus darf. Denn so langsam fuehle ich mich wie Rapunzel. Nur ohne Turm.

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